Brief No. 30 – Theaterduft

Liebe Anne,

Du hast so wunderbar geschrieben, dass ich meinen Makronenneid direkt vergesse. Ich habe auch gerade gebacken, Mürbeteigplätzchen, leicht angesengt. Ich kann es einfach nicht. Das Kind sagt, die Kekse seien „relativ lecker“. Wie höflich.

Leicht fällt mir hingegen, Deine Frage zu beantworten, welchen Duft ich in Zeiten von Corona am meisten vermisse.

Theaterduft.

Und dabei meine ich nicht den Duft auf der Bühne und in den Kulissen, den Geruch nach Puder und Bohnerwachs, Trockeneis und Lampenfieber.

Ich habe den Theaterduft im Sinn, der mir als Zuschauerin in die Nase steigt, den Duft von Parfums und alten Samtbezügen, durchzogen von einer Note freudiger Gespanntheit und regenfeuchten schweren Mänteln, die sorgsam in Pflegschaft genommen an der Garderobe trocknen.

Mir fehlt das Theater und das ganze Drumherum: das Fertigmachen, ein schönes Kleid. Das Öffnen der Tür zum Empfangsbereich, das Stimmengewirr, das sich zu einem Murmeln, dann einem Flüstern, dann Stille senkt, wenn die Lichter im Zuschauerraum erlöschen. In der Pause das Nebenstück, das Beobachten der Theaterbesucher bei einem Glas Sekt, hier die lässige Jeansvariante, dort die große Robe, und ob das Collier wohl echt ist? Kinder, herausgeputzt, Ballettschüler?

Du siehst, es ist nicht nur der Duft. Es sind auch die Geräusche.

Das Rascheln von Organzastoff. Unterdrücktes Husten. Der Herr drei Plätze weiter schnarcht sich durch die zweite Halbzeit, Operette war noch nie so seins, aber ist halt im Abo mit drin, was soll man machen.

Theaterluft.

Gehst Du mit mir aus, wenn sich die Vorhänge endlich wieder öffnen?

Ich bin für alles offen, von Impro bis Oper.

Nur bitte nichts, was Corona thematisiert.

Von dem Theater hab ich mehr als genug.

Und nun zieh ich mein feinstes Kleid an und geh zum Supermarkt, Kekse kaufen. Das gute Stück muss an die frische Luft, bevor die Motten kommen.

Alles Liebe

Deine Anne

Brief No. 29 – Duft der Lebendigkeit

Liebe Anne,

was machst Du gerade? An diesem vierten Adventssamstag? Vielleicht sitzt Du mit Plätzchen und Heizdecke auf dem Sofa. Danke für den Blick in die Zukunft in Deinem letzten Brief. Ich habe mich köstlich amüsiert.

Während bei mir die Kokosmakronen im Ofen backen, muss ich an eine Szene aus der Innenstadt diese Woche denken…

Menschen stehen Schlange. Dicht gedrängt, aber nicht dicht genug, um den Duft ihres Vordermannes einatmen zu können.

Wie gern sie jetzt den Duft gebrannter Mandeln, dampfenden Glühweins und gerösteter Maronen in ihre Nasen einsaugen würden. Ihre eisigen Hände an den Tassen wärmen, die Hitze des Getränks im Schein der Weihnachtsmarktbeleuchtung ihrem Gegenüber entgegenpusten.

Laut lachen, singen und rufen. Beherzt packen, ringen und knutschen.

Unbeschwert rotzen, schwitzen und husten. Kotzen, spucken, prusten.

In verrauchten Kneipen Bier verschütten. Sich in überfüllten U-Bahnen zwischen stinkenden fremden Körpern durchquetschen. Im Aufzug so dicht zusammenrücken, dass einem fast die Luft wegbleibt.

Stattdessen stehen sie steril verhüllt vor der örtlichen Parfümerie, um ihren Liebsten kurz vor der angekündigten Schließung ein Stück duftende Zivilisation zu ergattern.

Wie zum Beweis, dass mit ihrem Geschmacks- und Geruchssinn alles in bester Ordnung ist.

Nach welchem Duft sehnst Du Dich, liebe Anne?

Hier hängt nun frisch gebackene Kokosmakrone in der Luft.

Schnuppernd grüßt Dich
Deine Anne

Brief No. 28 – Weihnachten 2060

Liebe Anne,

wie hab’ ich mich über den Brief von Dir gefreut, der mich sogleich inspiriert hat!

Darum hier folgende Szene, flott runtergetippt und unredigiert:

 

Weihnachten 2060

Die Gans war lecker. Man versammelt sich vorm Kamin mit Keksen.

Oma Anne: Wenn ich an das Weihnachten vor 40 Jahren denke…

Schwiegertochter Hanna: Und es geht wieder los…

Oma Anne: Da war Corona, die zweite Welle, und wir durften kaum aus dem Haus.

Sohn Frederik, Historiker: Na, so streng waren die Beschränkungen auch nicht, in meinen Quellen steht…

Oma Anne: Quellen Schamellen, ich war dabei, ich werde es wohl am Besten wissen. Wo ist eigentlich meine Heizdecke? Heizdecken gab es 2020 auch noch nicht.

Schwiegertochter Hanna: Anne, du übertreibst. Heizdecken gibt es, seit es Kaffeefahrten gibt.

Oma Anne: Kaffeefahrten konnte man 2020 auch nicht machen.

Sohn Frederik: Das hingegen kann schon fast wieder sein.

Oma Anne: Sach ich ja. Wo war ich stehengeblieben?

Enkelin Sophie: Irgendwo in der Antike.

Oma Anne: Du sollst nicht so frech sein. Diese Jugend! Und dann die Klamotten! Muss dein Rock so blinken?

Enkelin Sophie: Das ist IW. Intelligent Wear. Mein Rock kann auch Frischkäse bestellen, wenn mein Calciumspiegel zu niedrig ist.

Oma Anne: Und warum blinkt er jetzt gerade?

Enkelin Sophie: Weil das sexy aussieht.

Schwiegertochter Hanna: Sophie, ich bitte dich.

Oma Anne: Mein Rock bestellt nichts. Meine Sachen sind nach wie vor selbstgehäkelt. Solange mein Augenlicht noch mitmacht…

Schwiegertochter Hanna: Hier ist deine Heizdecke. Ich könnte aber auch einfach die Infrarotheizung…

Oma Anne: Papperlapapp, Infrarotheizung, sowas gab es früher auch nicht. Überhaupt hatten wir fast nichts.

Sohn Frederik: Also –

Oma Anne:  Klopapier war ein Luxusgut! Wer es richtig dicke hatte, schmückte damit den Tannenbaum. Ja, so knapp waren die Jahre damals.

Enkel Max: Gott sei Dank ist Corona weg.

Oma Anne: Im Moment.

Schwiegertochter Hanna: Nun mach dem Jungen doch keine Angst.

Oma Anne: Könnten immer wieder kommen, die kargen Seuchenjahre.

Sohn Frederik: Muddern!

Oma Anne: Ist ja schon gut. Aber ihr solltet euch schon bewusst sein, dass ihr es wirklich gut habt.

Schwiegertochter Hanna: Das wissen wir doch, Anne, das wissen wir doch.

Sohn Frederik: Likörchen, Muddern?

Oma Anne: Likörchen hatten wir…

Enkelin Sopie: … damals auch nicht. Richtig?

Oma Anne: Richtig, Kind. Es gab nur dünnen Fencheltee.

Sohn Frederik: Muddern, jetzt is’ aber gut. Du übertreibst. Natürlich hattet ihr Likör. Hier, nimm einen. Corona ist lange vorbei.

Oma Anne: Ich will keinen Likör. Ich will Scotch, wie ich ihn immer mit meiner Freundin Anne trinke! Bringt mir den guten Lagavulin, pronto!

 

In diesem Sinne, liebe Anne, ein vorweihnachtliches

PROST!

Deine Anne

Brief No. 27 – O du Bürokratische…!

Liebe Anne,

hast Du schon Deine vier Personen zusammen? Oder sind es etwa mehr? Sind Mehrgenerationenhäuser ein oder mehrere Haushalte? Wo bekomme ich jetzt noch einen Vaterschaftstest her? Oder reicht ein Corona-Schnelltest?

Fragen über Fragen. Dabei ist seit heute doch endlich alles klar und einheitlich geregelt. Ein Baum pro Haushalt, maximal zwei Meter hoch, außer der Adventskranz hat mehr als einen halben Meter Durchmesser, dann wird beides gegeneinander aufgerechnet. Ein bisschen wie bei Hartz IV oder Elterngeld.

Also alles wie immer. Es gibt mehr oder weniger eindeutige Regeln sowie die dazugehörigen Grauzonen, Auslegungs- und Umgehungsmöglichkeiten. Letztlich kann jeder selbst entscheiden, wie er sich dazu verhält.

Neu ist nur, dass die staatlichen Regeln nun eine Sphäre betreffen, in der bisher ein anderer Regeltypus vorherrschend war: Die familiären Regeln. Dass mit der Bescherung gefälligst bis nach dem Essen gewartet wird. Dass ein Baum ohne echte Kerzen kein echter Baum ist. Und dass Tante Erna spätestens nach dem ersten Glühwein die alten Geschichten aus ihrer Jugend auspackt.

Ist das ein Grund, sich das Weihnachtsfest verderben zu lassen? Hoffentlich nicht! Schön ist es trotzdem nicht. Wie wir wohl in ein paar Jahren über dieses Weihnachten 2020 sprechen werden?

Vielleicht heißt die neue familiäre Regel dann: Spätestens nach dem ersten Sekt packt Tante Anne die Geschichte vom Corona-Weihnachten aus.

Darauf einen vorweihnachtlichen Scotch
Deine Anne

Brief No. 26 – Über Schönheit.

Liebe Anne,

ich schicke vorweg: Dieser Brief entstand, ohne dass ich mich vorher belesen hätte. Ich habe weder bei den Philosophen, noch bei den Psychologen oder Soziologen vorbeigeschaut, und die Historiker habe ich auch nicht befragt. Zahlreiche sehr kluge Menschen haben sich – da bin ich mir sicher – mit der Schönheit beschäftigt, und ich habe sie nicht konsultiert. Ich bin nicht in die Bibliothek gegangen, um meiner Frage hinterherzuforschen, und ich habe auch nicht gegooglet, noch nicht mal ein kleines bisschen. Ich hätte vielleicht auch einen Theologen fragen können. Hab’ ich aber auch nicht gemacht.

Stattdessen habe ich das getan, was im Englischen so schön mit ‘to sit with a question’ beschrieben wird. Leider gibt es dafür keine wirklich treffende deutsche Entsprechung. ‘Über etwas brüten’ vielleicht. Oder einfach ‘nachdenken’ oder ‘sinnieren’. Die englische Wendung beschreibt allerdings viel besser, wie ich versuchte, der Sache auf den Grund zu gehen: Um mich mit meiner Frage auseinanderzusetzen, setzte ich mich mit ihr zusammen.

Und da saßen wir dann.

“Wann findest du etwas schön?”, fragte die Frage.

“Wenn ich das wüsste!”, antwortete ich. “Deswegen sitz’ ich ja hier mit dir, um das herauszufinden!”

“Wann war das letzte Mal, dass du etwas besonders schön fandest?”, fragte die Frage.

“Das ist leicht”, sagte ich. “Gestern. Im Museum. Im Folkwang.”

“Ein Kunstwerk?”, fragte die Frage. “Cézanne?”, schob sie träumerisch hinterher.

“Öhm…”, sagte ich ertappt.

“Signac?”, versuchte die Frage weiter, mein ästhetisches Empfinden zu ergründen.

“Ja, also… auch. Klar. Tolle Meister, natürlich”, sagte ich und errötete etwas.

“Raus mit der Sprache!”, verlangte die Frage und streckte sich zu meiner Überraschung zu einem Ausrufezeichen.

“Huch!”, sagte ich.

“Nix huch, Butter bei die Fische!”, setzte die Frage nach und beugte sich leicht nach vorne. “Magst du es mir ins Ohr flüstern?”

“Die Tasche”, raunte ich verschwörerisch.

“Bitte?”, fragte die Frage wieder in gewohnter Fragemanier. “Welche Tasche denn? Seit wann ist im Folkwang eine Tasche unter den Exponaten?”

“War ja nicht im Museum direkt.”

“Sondern?”, fragte die Frage inquisitorisch.

“War… im Museumsshop”, flüsterte ich.

“Eine Tasche im Museumsshop war schöner als Renoirs Lise?”, fragte die Frage irritiert.

“Kann man das vergleichen?”, fragte ich.

“Moment, ich stelle hier die Fragen, oder?”, fragte die Frage.

“Auf jeden Fall war die Tasche so schön, dass ich sie gekauft habe”, versuchte ich eine Antwort.

“War sie teuer?”, fragte die Frage.

“Jedenfalls war sie günstiger als Renoirs Lise“, sagte ich ein bisschen trotzig.

“Das heißt überhaupt nichts, Lise ist natürlich unverkäuflich, wie du sicher weißt?”, trumpfte die Frage auf. “Kann ich sie mal sehen?”, fragte sie dann.

Ich holte die Tasche, die Tasche, dieses wunderschöne Stück, und reichte sie der Frage.

“Is this a handbag I see before me, the handle towards my hand?”, rezitierte die Frage in großer Geste. “Macbeth, haste erkannt?”, schob sie dann selbstzufrieden hinterher und erfreute sich an ihrem eigenen Witz. Ich ließ sie gewähren.

“Diese Tasche, schlicht, kastanienbraun, aus weichem Leder, nach Leder riechend, mittelgroß, rechteckig, mit silbernem Bügel und einem verstellbaren Schulterriemen?”, fragte die Frage nüchtern und reichte sie mir zurück. “Was an ihr empfindest du als besonders schön?”, fragte sie dann.

“Genau da beißt sich die Katze in den Schwanz!”, jammerte ich. “Das weiß ich nicht. Alles an ihr, alles zusammen! Das Ensemble, das Zusammenspiel, die Komposition, die Proportionen, was weiß ich! Sie ist einfach wunderschön, aber ich kann nicht benennen, warum!”

“Liegt die Schönheit nicht im Auge des Betrachters?”, fragte die Frage.

“Ja, ach was!”, rief ich. “Darum geht es ja! Was ist da in meinem Auge, das bewirkt, dass ich diese Tasche als schön empfinde? Warum empfinde ich diese Tasche als schön, während andere ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen an ihr vorbeigegangen sind?”

“Das kann ich dir so leider auch nicht beantworten, ich bin schließlich eine Frage und keine Antwort, das hast du doch wohl nicht vergessen?”, fragte die Frage streng.

“Du bist ja nicht besonders hilfreich”, maulte ich.

“Vielleicht solltest du doch jemanden fragen, der sich damit auskennt?”, schlug die Frage vor und stand dabei von der Couch auf. “Ich muss nämlich noch zu einem sehr wichtigen Weltkongress, da sind Fragen wie ich immer sehr gefragt.”

Und schwupps, weg war sie, und ich war keinen Deut schlauer.

Zum Glück kenne ich einen kurzen Weg zur Erleuchtung in Gegenständen philosophischer Natur.

Ich schreibe Dir einen Brief!

Was im Auge des Betrachters ist es, das die einen verzückt und die anderen die kalte Schulter zeigen lässt?

Liebe Anne, kannst Du mir weiterhelfen? Alleine tret’ ich auf der Stelle.

Alles Liebe

Deine Anne

P.S.: Ich hoffe, Du bist nicht auch auf einem sehr wichtigen Weltkongress. Falls ja, grüß mir die Frage!

Brief No. 25 – Zufall Mensch reloaded

Liebe Anne,

danke für Deinen Brief. Und Herr D. aus D., Dank Ihnen für Ihre Gedanken!

Erst einmal zu Dir, Anne: Bei der Lektüre Deiner Zeilen hüpfte die Abenteurerin in mir wütend auf und ab (so richtig rumpelstilzchenesk mit hochrotem Gesicht und geballten Fäusten), als sie sich vorstellte, dass eine algorithmendurchdrungene Zukunft uns jedes Zufalls berauben könnte, bis hin zur Getränkeauswahl. „NÖ!“, brüllte sie empört, „mit mir ja schon mal gar nicht, soweit kommt’s noch!“ Es folgten unflätige Ausdrücke, die ich hier zur Qualitätssicherung des Briefes zensieren muss. Danach, als sie sich ein bisschen abgeregt hatte, gedachten wir bei einem beruhigenden Fencheltee all der Zufälle, die bisher in unser Leben gespült worden waren.

So ein Zufall bist Du, Anne. Ich hätte damals ebensogut ein anderes Hauptseminar wählen oder mich ganz nach vorne im Seminarraum setzen können. Dann hätten wir nicht Seite an Seite gesessen, ich hätte Dich nicht angelächelt, und Dich, als Du zurücklächeltest, nicht angesprochen. In der Woche darauf hätte ich Dir vor Seminarbeginn nicht mein Thesenpapier gezeigt, und das alles zusammen hätte nicht zu einem mehrstündigen Kaffeedate am Markt geführt, wo wir herausfanden, dass wir so viel mehr als einen Namen teilen. Was hätte ich verpasst, wenn mir nicht irgendetwas im Vorlesungsverzeichnis geflüstert hätte, dass ich dringend etwas über das Pidgin Haitis lernen müsse, um im Leben gescheit voranzukommen?

Herr D., ein weiteres Beispiel einer chance encounter. (Ist das nicht ein toller Terminus? ‘Zufallsbekanntschaft’ sagen wir, aber das Englische schließt die Möglichkeiten – und im weiteren Sinne auch das das potentielle Glück – der Begegnung ganz offen im Begriff mit ein. Das gefällt mir.)

Ich lege an dieser Stelle für unsere Leser offen, dass ich Herrn D. persönlich kenne. Der Kontakt zu Herrn D. entstand durch Kontakt zu seiner wunderbaren Frau A., der sich wiederum durch Kontakt zum jungen Fräulein C. entwickelte, das sich unseres Kindes annahm, als es in der neuen Kita mit seinem Schnuffeltuch unsicher in einer Ecke stand. Hätte Fräulein C. stattdessen beschlossen, das Kind einfach links liegen zu lassen, wäre ich jüngst der Chance beraubt worden, ein verregnetes Wochenende in einem alten Kloster mit überbordendem Fressalientisch und improvisierten Gemäldeanalysen im Refektorium („Othello?“ – „Nee. Historisch.“ – „Oder was ganz anderes.“ – „Das da ist ein grübelnder Kardinal.“ – „Warum hat sie ihre Hand an seinem Po?“ – „Ich google das mal.“ – „Kein Netz.“ – „Eifel halt.“) zu verbringen, und ich möchte sie nicht missen.

In extenso führt das zu der irgendwie irren, aber schönen Konsequenz, dass das Dir bisher unbekannte Fräulein C. verantwortlich dafür ist, wo Du demnächst Silvester feierst, Anne. Und ja, natürlich können wir aufhören, Herrn D. zu siezen, und ihn einfach Dennis nennen.

„ABER!“ mischt sich die Sicherheitsbeauftragte in mir da unerwartet ein. „So ein Algorithmus könnte all die Leute, auf deren Kontakt man sehr gut verzichten kann, einfach im Voraus aus der Biografie herausrechnen und allein die sympathischen, kompatiblen Charaktere mit Mehrwert berücksichtigen. Was man sich da nicht alles für Ärger ersparen könnte! Beispiel? Gestern!“

Ich weiß genau, was sie meint, leider. Eine Dame an einem Serviceschalter hatte mich mit einer selten dagewesenen Hochnäsigkeit derart von oben herab behandelt, dass ich kurz davor war, wie im Film zu fragen: „Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“ (Zum Glück nahm ich davon Abstand. Das ist eine sehr dämliche Frage. Wer ist schon so erleuchtet, dass er wirklich weiß und im Zweifelsfall erklären kann, wer er ist?) Stattdessen blieb ich so freundlich, wie es mir möglich war, und ärgere mich nun im Nachhinein darüber. Ich hätte einfach den Chef verlangen sollen. Auf jeden Fall hätte ich gern auf die Begegnung verzichtet. Und da wäre es doch praktisch gewesen, wenn mir eine App im Vorherein bedeutet hätte, mich in die Schlange daneben zu stellen, um von dem jungen Typ mit dem grünen Ziegenbärtchen bedient zu werden. Der schien ganz vernünftig zu seinen Kunden zu sein.

„Siehste!“, sagt die Sicherheitsbeauftragte, lehnt sich zurück und legt weitere Beispiele nach. Den Exfreund. Den einen Professor aus dem Grundstudium. Die Busfahrerin neulich. Die Lästerschwester drei Häuser weiter. Sie hat einige Exempel parat, meine Sicherheitsbeauftragte, und resümiert schließlich: „Denen wärste dann nicht über den Weg gelaufen! Und in Zukunft würdest Du automatisch ferngehalten von allen Napfsülzen. Wäre das nicht praktisch?“

Ja. Wäre es das nicht? Chance schließt eben auch immer die Möglichkeit mit ein, dass man es mit potentiellen Deppen zu tun haben könnte, und prophylaktische Deppenvermeidung klingt erst einmal nach einem sehr sinnvollen Geschäftsmodell.

Aber welche Geschichten erzählen wir uns, wenn Algorithmen bestimmen, wem wir begegnen?

Hieß es bisher:

„Ich hätte nie diesen Blog gestartet, wenn ich mich damals nicht für das Seminar entschieden hätte.“

„Wenn die Kinder sich nicht befreundet hätten, wären wir nie im Kloster gelandet.“

… hieße es dann:

„Anne wurde als für mich freundschaftskompatibel berechnet.“

„Die App hat Dennis und seine Familie für uns in der Kita ausfindig gemacht.“

Hat das noch Zauber?

Hat das noch diesen kleinen magischen Augenblick des Wenn-ich-nicht-dann-hätt’-ich-nie der besonderen Begegnung, von dem wir in Momenten erzählen, in denen wir glauben, dass es das Leben gut mit uns meinte, indem es uns einen besonderen Menschen – oder gleich eine ganze Sippe – zutrug?

Oder anders (und mir ist bewusst, Dennis, dass ich den ursprünglichen Kontext zerfleddere, aber das Bild ist zu passend, um es nicht für meine Zwecke einzusetzen): Ist es nicht so, dass erst wenn der „Kontrollblick und der Ruf der planenden Vernunft weniger als eine Sekunde vorausgreifen“, die Formen von Begegnung möglich werden, an die wir uns erinnern und von denen wir später erzählen?

Nachdenklich bin ich

Deine / Eure Anne

Leserbrief No. 2

Von: <dxxxxxxxxxxxx@gmail.com>
Gesendet: Samstag, 7. November 2019 23:12
Betreff: Liebe Anne “Brief No. 2”

Liebe Schreibende,

bei mir läuft Musik. Zu laut für eine Unterhaltung. Gerade so laut, dass die Eindringtiefe in das Hirn über das Ohr als angenehme 5 Zentimeter empfunden wird. Das Stammhirn spürt schon Vibrationen, aber keine Melodie. Der ganze Rest drumherum ist also beeinflusst, sozusagen übertönt. Zumindest ist kein Steuermann mehr im Gedankenstrom, der sich so recht durchsetzen kann. Der Kontrollblick und der Ruf der planenden Vernunft greifen nur weniger als eine Sekunde voraus und kaum mehr als ein wenig mehr zurück. Das Fenster wird eng. Nicht schlimm. Dazu ein Computer.

Schrecklich, mir jetzt meine Handschrift vorzustellen. Schrecklich, sich Widerstand zu wünschen (also sich sehen und sich spüren während dieses Schreibens). Das wäre, wie sich selbst in einer peinlich-intimen Situation hinter einem Vorgang verborgen zu beobachten. Ist man erzogen, will man lieber nicht da sein. Dabei ist die Situation natürlich weder dramatisch, noch ausschlaggebend. Die Sache selbst begründet nicht das Schamgefühl. Es hat keinen Anlass in einer irgendwie gearteten entstehenden Heiligkeit des schaffenden Moments. Da ist wenig Erhabenheit. (Die ja auch gar nicht gefordert oder auch nur behauptet wurde von den Briefeschreibenden).

Für mich eher die konsequente Kohärenz der Kleinbedeutendheit des Moments mit der Unwichtigkeit des Schreibers. Das ist nun nicht gut ausgedrückt, weil es – wiederum bei erzogenen Menschen – den Impuls zur Gegenrede oder zum schamhaften Zurücktreten auslösen müsste. Dabei ist es der Moment selbst, der angenehm ist. Der Rest ist Bühne. Ich bin das Vorher und Hinterher, die physische Funktion. Von mir ist wenig in den Lauf der Welt einzubringen. Relevanter ist, dass dieser Moment selbst ist – der einzige Unterschied zwischen Sein und dem Anderen. Insofern will ich mich nicht selbst berühren beim Schreiben von Worten. Keine Handschrift, kein Widerstand, keine Sehen auf die eigenen Finger. Schon tragisch für mich, dass ich in mich reinhorchen muss, um Worte zu finden. Dietrich Bonhoeffer (der sich nicht gegen wenig umsichtiges Zitieren von Bruchstücken wehren kann) schrieb den feinen Satz „Wer lernen will zu dienen, muss zuerst lernen, gering von sich selbst zu denken“ (Quellenangabe bei Bedarf gern). Und das schreibt er aus dem Interesse, das menschliche Antlitz aufzurichten. Dazu der schöne, wenn auch dunkle Satz eines anderen Theologen (Fulbert Steffensky): „Unsere Bedürftigkeit ist unsere Würde“. Soviel nur zu meiner Handschrift, weil die letzten beiden Briefe auch anregten, sich als Leser zu ihnen nicht nur inhaltlich, sondern auch zu ihnen als kommunikativem Ereignis und Vorgang in Beziehung zu setzen.

Die Musik hat übrigens geendet. Das Buch mit den Briefen Bonhoeffers liegt noch da. Der Bildschirm hält das Fenster zu dem Blog noch geöffnet. Eigentlich auch ganz gut, dass jetzt keiner mit mir spricht. Dann haben die entstehenden und entstandenen, die eigenen und fremden Worte eine Chance. Ich muss mal googlen, wie nah sich die Worte „kommunizieren“ und „Kommunion“ bringen lassen. Mach ich jetzt nicht, kann mich auch so freuen, dass „kommunizieren“ vielleicht auch als „sich ereignende Gemeinschaft“ verstanden werden kann, ohne dass dazu (direkter) Austausch notwendiges Kriterium sein muss. So wie „Teilen“ das „gemeinsame Nehmen aus dem Selben“ sein kann, ohne dass die Teilenden notwendig etwas direkt untereinander austauschen müssen. Ich habe mich (und das passt dann doch nicht ganz präzise) zu einem kommunizierenden Teilnehmer gemacht, indem ich etwas aus Euren Briefen, liebe Schreiberinnen, nehme und nicht etwas handschriftlich dazu tue. Insofern ist der Moment des Tastentippens eine durch Euren Blog ins Leben gerufene Teilnahme. Communio ex nihilo. Danke.

Aber weil das eigentlich Schöne an Euren Briefen ist, dass Neues entsteht und dazukommt, werde ich diesen Brief geschrieben haben und hinter dem Vorhang aushalten.

Brief No. 24 – Zufall Mensch

Liebe Anne,

Kakao trinkt er also, der Herr Präsident. Jetzt wissen wir’s. Das finde ich durchaus erstaunlich, habe ich doch neulich erst erlebt, wie ein deutscher Gast in einem amerikanischen Lokal “cold cocoa” zu bestellen versuchte. Er bekam: Ein Glas Coke. Mit Eis.

Wie gern würde ich nun erzählen, dass die Kellnerin die Bestellung in ein digitales Gerät eingetippt hatte, das “cocoa” nicht als Auswahlmöglichkeit anbot. Für einen kurzen Moment war ich versucht, mir diese künstlerische Freiheit zu nehmen und auf diese Weise einen anekdotischen Beweis für Deine These vom spitzen Stift und den gespitzten Ohren zu liefern. Aber so war es einfach nicht. Die Kellnerin hatte ganz klassisch mit Zettel und Stift notiert, was sie gehört zu haben glaubte.

Szenisch:

Im Restaurant irgendwo im Mittleren Westen Amerikas.

Auftritt Kellnerin mit Haaren wie Cindy Lauper.

Kellnerin (zückt Block und Stift, while chewing gum): What would you like to drink?

Deutscher Gast: Äh… cold co-coa, please!

Kellnerin: Is Pepsi okay?

Deutscher Gast: No… äh… cocoa…

Kellnerin: So no Pepsi?

Deutscher Gast: No, I mean cocoa! Like… (wendet sich hilfesuchend seiner neben ihm sitzenden Freundin zu.)

Freundin: Pepsi is fine, thanks!

 

MÖÖÖP! Was ist da passiert? Waren die Ohren der Kellnerin etwa mit Kaugummi verklebt?

Und die der Freundin?

Vermutlich wollte letztere einfach schnell die für alle Beteiligten somehow awkward situation beenden. Es war schließlich schon spät, die Küche des Lokals schloss bald und die fünfköpfige Reisegruppe brauchte dringend etwas zu essen. Da musste der ausgefallene Getränkewunsch des Freundes dem Gemeinwohl untergeordnet werden.

Ob Kaugummi oder unangenehme Situation, die Damen hatten ihre Ohren nicht richtig gespitzt. Wäre das mit spitzem Stift anders gewesen?

Möglich.

Auch ich schreibe gerne mit der Hand. In Vorträgen und Gesprächen hilft mir handschriftliches Mitschreiben beim Zuhören. Seit Kurzem schreibe ich allerdings nicht mehr auf Papier, sondern mit tintenlosem Stift auf einer spiegelglatten Scheibe. Handschrift goes digital. Obwohl… ist das wirklich digital?

Das Schreiben mit der Hand – ob auf Papier oder auf Scheiben – ist etwas völlig anderes als das Tippen auf einer Schreibmaschine oder einem Touchscreen. Ich übertrage das Gehörte in Bewegungen, zeichne geschwungene Linien, beobachte ihre Entstehung und verleihe ihnen die Bedeutung des geschriebenen Worts. Bin eingebunden in Raum und Zeit, als Einheit von Körper und Geist. Wie ein Tanz.

Beim Tippen drücke ich auf einen Knopf und ein ganzer Buchstabe erscheint. Sofort. Es ist eine mechanische Tätigkeit. Ich passe mich der Maschine an, nicht die Maschine sich mir. Genau wie Herr D. es in seinem Leserbrief beschreibt.

Mein elektrifizierter Schreibblock ist da anders. Das einzige, was mir beim Schreiben fehlt, ist der Widerstand des Papiers. Das leichte Kratzen von Feder oder Mine auf der Oberfläche. Das rhythmische Geräusch, die Musik zu meinem Tanz. Sie ist eine andere. Leise macht es “klack, klack, klack”, wenn ich den Stift aufsetze. Die Ballerina wird zur Stepptänzerin.

Während ich schreibe, leuchten die Meldungen sozialer Medien-Apps auf: “Peter K. hat dich in einem Kommentar erwähnt.” – “Katja B. hat seit längerer Zeit etwas getwittert.” – “Amir C. hat einen neuen Job.”

Ich werde über andere informiert. Mit-einander reden, das geschieht in der Tat sehr selten in den sogenannten sozialen Medien.

Und noch etwas fehlt: Das Unerwartete. Das Zufällige. Das, was nur passiert, wenn echte Menschen aufeinander treffen. So wie die Drei aus unserer Restauranszene. Der Algorithmus hätte unserem deutschen Gast den Kakao schon gebracht, bevor er selbst gewusst hätte, dass er ihn will. Jetzt muss er Pepsi trinken. So ist das manchmal auf Reisen. Oder beim Steinesuchen im Wald, wie Herr D. so schön schreibt: Es macht “Lust auf die nächste Zukunft.”

Kommt uns diese Lust abhanden in einer vorausberechneten Welt? Oder entsteht vielmehr eine Sehnsucht nach Überraschendem?

Ich jedenfalls freue mich auf Deinen nächsten Brief, liebe Anne, und bin gespannt, womit Du mich diesmal überraschst!

Alles Liebe
Anne

Brief No. 23 – Spitzer Stift, gespitzte Ohren.

Liebe Anne,

oha. Miteinander reden. Zuhören. Da hast Du aber ein Fass aufgemacht. Mein vom Urlaub noch sandverkrustetes Hirn (jetzt echt mal! Strandsand kriecht einfach überall hin!), dessen herausforderndste Aufgabe in der letzten Woche darin bestand, die Strandmuschel vor den Augen schadenfroh lauernder Kurgäste lässig in den Strandmuschelsack zu falten („Schafft sie es? Schafft sie es?”), muss jetzt erstmal warmlaufen, um Deinen Gedanken würdig zu begegnen.

Wait for it…

Loading…

Still loading…

*Fahrstuhlmusik*

Updating, please wait…

Thank you for your patience!

Jetzt.

(Vielleicht.)

 

Liebe Anne,

oh ja.

Miteinander reden.

Das ist ein großes Thema, tagesaktuell und hochpolitisch, im Kleinen wie im  Großen, und mit erstaunlichen Parallelen auf allen Ebenen!

Da ich mich gerade als Dramaturgin übe, möchte ich das mal szenisch darstellen:

 

Szene 1

Am Frühstückstisch.

Auftritt Kind mit Haaren wie Vogelnest.

Mutter: Guten Morgen, Kind. Kakao?

Kind: Die Lilly hat viel mehr Barbies als ich.

Mutter: Hier, mein Schatz. Reicht Kakao. Ist der Schulranzen gepackt?

Kind: Schlürft Kakao. Ich spare jetzt auf die Meerjungfrauenbarbie mit Leuchtflosse.

Mutter: Prima. Kämm dich noch, bevor du losgehst, ja?

Kind: schlürft Kakao, grunzt Unverständliches.

Mutter: Du musst dich ein bisschen beeilen, es ist schon Viertel vor. Die Bürste liegt auf der Kommode im Flur.

Kind steht widerwillig auf und verlässt die Küche.

Wiederauftritt Kind.

Mutter: Du siehst ja immer noch wüst aus. Du solltest Dich doch kämmen!

Kind: Haste nicht gesacht.

Mutter: Hab ich.

Kind: Und wo ist bitteschön die Bürste? Immer musst du mich so hetzen. Und zu trinken hatte ich auch noch nix.

 

Szene 2

Am Frühstückstisch.

Auftritt Präsident mit perfekt geföhnten Haaren.

Stabschef: Good Morning, Mr. President. Hot Cocoa?

Präsident: Good morning. I am tremendously awesome.

Stabschef: Of course, Sir. Here, enjoy your cocoa.

Präsident: So awesome. Schlürft Kakao.

Stabschef: Certainly, Sir. May I give you your morning briefing?

Präsident: I’m gonna buy Greenland.

Stabschef: Wonderful, Sir. Now, as for Great Britain…

Präsident: I’m gonna grab Greenland by the pussy.

Stabschef: I’m sure, Sir. Yesterday, the Brexiteers…

Präsident: I’m gonna paint Greenland yellow. Just because I can.

Stabschef: Absolutely, Sir. May I now shift your attention to Europe?

Präsident: Europe? Why, is it for sale, too?

 

Die Familienszene ist bis auf leichte Schrammspuren am mütterlichen Nervenkostüm harmlos. Die Präsidentenszene ist es nicht. Satire hin oder her – es ist inzwischen vorstellbar, dass es im Weißen Haus genau so zugeht. Just because he can.

Und dazwischen, in der Kommunikation zwischen Fremden und Freunden, im  alltäglichen Miteinander? Wie Du beobachte ich, dass Menschen zunehmend im Sendemodus herumspazieren. Alle sabbeln, aber kaum einer hat seine Antenne auf Empfang gestellt. Bei Kindern ist das noch entschuldbar: verkürzte Aufmerksamkeitsspanne und allgemeines Morgenmuffeltum oder im ungünstigen Fall beides in Kombination.

Bei Erwachsenen gibt es keine Entschuldigung. Aber es gibt eine Erklärung. Verantwortlich sind die sozialen Medien. Ja, es ist so simpel. Soziale Medien sind nämlich null sozial. Sie sind Plattformen der Selbstinszenierung, die unser Feedbackvermögen auf einen Buttonklick reduzieren. Wir verlieren die Fähigkeit zuzuhören, weil unser Hirn sich daran gewöhnt hat, nur noch Ultrakurzrückmeldungen in Form von Daumen-, Herzchen- oder Smiley-Icons zu verarbeiten.

Alle wollen guten Empfang, aber keiner will zuhören.

Austausch kann man das nicht mehr nennen.

In den sozialen Medien werden wir vielleicht gesehen, wenn wir uns brav algorithmuskonform verhalten, aber wir werden nicht erkannt. Dafür braucht es den persönlichen Kontakt, für den wir uns Zeit nehmen müssen. Einen gemeinsamen Kaffee, zum Beispiel. Oder einen Brief.

Am Sonntag haben wir unseren ersten Leserbrief auf liebe-anne.de erhalten. Auf unseren Leserbriefschreiber, Herrn D. aus D., wirkt das Briefeschreiben wie eine „Lüftung von unerwarteter Seite“. Herr D., Hut ab! Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, und zwar in mehrfacher Hinsicht:

In Ermangelung eines eigenen Büros bin ich heute im Baumarktcafé, um zu schreiben. Bereits auf der Radtour hierher wehte mir ein herbstkühles Lüftchen um Nase und Gedanken. Nun sitze ich hier neben einem Stapel Europaletten sowie festkochenden Kartoffeln im Tagesangebot, derweil Tiernahrung, Webergrills, Haustüren, Palmen und Holzzuschnitt an mir vorbeigeschoben werden, was die Ideen auf ganz neue Weise anschaukelt. Das Baumarktpersonal guckt freundlich bis irritiert. Hier sitzt man nicht, um zu schreiben. Hier verschnauft man kurz mit vier Säcken Spachtelmasse und neun Fliesenpaketen auf der Sackkarre, um alles kurz darauf in den Kombi zu hieven und das Gästebad komplett in Eigenregie zu renovieren. Vielleicht hält man mich für einen Spion – wie aufregend! Wie erfrischend!

Und dann ist da natürlich mein Füller. Ich habe ihn mir kürzlich genau für solche Gelegenheiten wie diese gekauft. Ich schreibe meine Texte häufig händisch vor. Kein Kabel behindert meinen Radius. Mein Mann nennt dieses altertümliche Schreiben auf Papier „Denken mit dem Stift“, was dem durchdigitalisierten „Homunculus“ in seiner verzerrt-demütigen Haltung vor einem seiner zahlreichen Gadgets ein willkommenes Gegenbild ist.

Und so schreibe ich und denke dabei an Dich, wie Du gerade auf dem Weg bist nach Bayern zu einem Termin, und ich überlege, ob Du wohl mit dem Zug gefahren bist, und ich frage mich, ob Du diesen Brief wohl heute noch lesen wirst. Und ich bin gespannt auf Deine Antwort, denn jetzt, genau in diesem Moment, „ist das Lauschen schon wichtiger geworden“, wie Herr D. es so schön beschreibt. Meine Gedanken sind auf den Weg gebracht. Ich freue mich schon sehr auf Deine!

Eine hinreichende Antwort, wie wir unser politisches System zum besseren diskursiven Miteinander bewegen können, kann ich abschließend leider nicht geben. Wer jedoch im Kleinen bei sich anfangen möchte gegenzusteuern, dem sage ich voll Überzeugung: Spitz den Stift, es spitzt die Ohren.

Alles Liebe

Anne

Leserbrief No. 1

Von: <dxxxxxxxxxxxx@gmail.com>
Gesendet: Samstag, 21. September 2019 22:47
Betreff: Liebe Anne “Ein Brief”

Nachrichtentext:

Sehr geehrte Damen,

wie fängt man an, wenn man nicht stören will?

Durch Parallelspiel, wie es im Kindergarten heißt? In etwas Abstand das Gesehene und Gehörte kopieren und versuchen, sich zu parallelisieren? Als sei man dabei? Oder abwarten in einer ruhigen Ecke? Durch rhetorische und halboffene Fragen? Vielleicht zuerst lauschend. Auf die Stimmen, die von Kaffee und Tauben erzählen. Eigentlich ganz sacht. Dabei fand ich darin Furor, nachdem ich seine Spur an anderer Stelle aufnehmen konnte. Bei Merkel und Macron beispielsweise.

Ich stelle mir vor, wie das Briefeschreiben aussieht. Digital und damit den Körper formend. Kopf, Finger, Tasten. Nicht in gerader Linie, sondern auf einen Bildschirm hin optimiert. Das immerhin ist etwas, das mich ärgert: Die Digitalität verformt meinen Körper. Die Anschlusskabel müssen zu Steckdosen, die mich – auf Knöchelhöhe angebracht – zu einem Homunculus verbiegen. Die transportablen Beamer wohnen auf Rollwagen, die mich einen Rollatorengang imitieren lassen, in Form und Geschwindigkeit. Die Kabel begrenzen meinen Aktionsradius wie Hundeleinen. Und zuletzt die Basiselemente der kosmischen Weltordnung. Sagen wir: Die Herbstsonne. Der Bildschirm zwingt mich, eine Seite wählen zu müssen: Für offene Fenster und natürliches Licht oder das Anrennen dagegen. Aus Sicht des Bildschirms ist die Welt Quasimodo.

Dabei lesen sich die Briefe ganz leicht. Eher stehend oder spazierend geschrieben. Und zugewandt. Aber auch etwas zu intim, um stören zu wollen. Also lieber kein Räuspern. Und wer so schreibt, ist durch ein gewinnendes Lächeln aus dem Off erst recht nicht zu beeindrucken. Zuhören und Weiterlesen? Ein vertrautes Flüstern. Gesprenkelt mit diesen leicht glucksend-kichernden Lauten, die nur einander schon gekannt Habende anstimmen können. Liest sich, also könnte die Fertigkeit des Briefeschreibens erhebend wirken. Und erfrischend. Es wird ein bisschen weiter, der Raum. Lüftung von unerwarteter Seite. So wie ich jüngst in einem Steinbruch war und Spuren aus dem Trias suchte. Oder der Kreidezeit. Weiß nicht mehr. Mit der Zeit verschob sich da diese Freude vom Stein in den Händen auf den nächsten, der noch irgendwo am Boden lag. Kennen bestimmt viele von klein an: dass so ein Suchspiel nagende Lust auf die nächste Zukunft gebiert. Dass irgendwann (nach Minuten) selbst das Hochheben des nächsten Steins fast schon eine bedrückende Störung ist. Erledigt und überwunden werden will. Weil es Zeit kostest, bevor der nächste Brocken gefunden und untersucht werden kann. Es reißt einen voraus, denn es wird Aufregendes kommen.

Wenn es gelingt, ist das Schreiben einer Nachricht also eher die eigene Vorbereitung und das Erwarten einer Antwort. Das immerhin bleibt losgelöst von der ungesunden Sitzhaltung und den etwas plump auf der Tischkante ablegten Armen: Dass jeder Satz auch eine Erwartung beginnen lässt, die auf den Moment der Antwort zielt. Ein bisschen Ent-Bindung. Wie der Stein, den man in einen Brunnen wirft. Während er fällt, ist das Lauschen schon wichtiger geworden. Was gleicht kommt, hat die Oberhand gewonnen.

Mit Tassen geht das sicher auch.

Es grüßt voller Hochachtung

D.